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Damaris Meyer: Ich mag Sie

Die dunklen Lackschuhe drücken wie damals. Der schwarze Anzug ist neu. Schließlich will ich für Anna schön sein. Ich straffe die Schultern, schaue auf mein weißes Hemd, rücke die rote Krawatte zurecht und hole das gebügelte Stofftaschentuch mit den eingestickten Initialen "A L" hervor. Damit fahre ich über Stirn und Schläfen, wie Anna es sonst tut.
Heute ist ein schöner Tag: Sommersonne, leichter Wind, der Geruch von frisch gemähtem Gras, Vogelgesang. Das wird Anna gefallen, freue ich mich.
Mit der Rechten ordne ich mein graues Haar. Dann greife ich nach der silbernen Taschenuhr meines Großvaters. Es ist fünf vor zehn. Bedächtig stecke ich sie zurück, blicke 'rüber zu meinem Freund Mo. Er unterdrückt ein Gähnen. War ein langer Tag, gestern. Der Priester nickt mir aufmunternd zu. Die Gäste schauen erwartungsvoll. Ich öffne den Mund, doch die Stimme zerkratzt mir den Hals. Also räuspere ich mich mehrmals und beginne erneut:

"Drei Monate ist es her. Da sah ich Anna das erste Mal. Es war am sechzehnten Mai in einem kleinen Café in der Stadt. "Lovely" heißt es. Wie sie da saß, in ihrem blauen Kostüm, die Beine übereinandergeschlagen - eine richtige Lady. Sie las in einem Buch, nippte an ihrem Kaffee. Plötzlich schaute sie auf und lächelte. Ich glaube, das war der Augenblick, in dem ich mich in sie verliebte. Aus einem Netz von Fältchen blitzten blaue Augen. Auch ihre Lippen waren von Lachfalten umgeben. Dabei wirkte ihre Haut samtweich, besonders am langen Hals und am Dekolleté mit dieser Einkerbung zwischen den Schlüsselbeinen. Das Haar, von dem ich nicht sagen kann, ob es weiß oder blond war, fiel weich auf schmale Schultern.
Ich fragte die Serviererin: 'Die Lady da drüben, ist sie öfters hier?'
'Das ist Anna, ihr gehört das Café', antwortete sie.
Ich trat von einem Fuß auf den anderen, dann ging ich zu ihrem Tisch: 'Entschuldigung.'
Sie zuckte zusammen, starrte mich an.
Ich deutete auf den leeren Stuhl: 'Ist der Platz noch frei?' Bevor sie etwas erwidern konnte, setzte ich mich. 'Herbert', stellte ich mich vor, dann sagte ich einfach: 'Ich mag Sie. Jemand hat mir verraten, dass Sie Anna heißen.'
Sie flüsterte: 'Ja, so heiße ich.'
Mir blitzte es durch den Schädel: Alter Junge, das ist sie. Streng dich an, gib alles!
Doch mir fiel nur ein Märchen ein.
Also fragte ich: 'Kennen Sie das Märchen von der Kristallvase und dem Kupferkessel?'
Endlich lächelte sie wieder, klappte ihr Buch zu, rückte näher an den Tisch heran.
'Nein, aber ich liebe Märchen.'
Die Serviererin trat zu uns. Ich bestellte Kaffee und erzählte:

'Einst verliebte sich ein Kupferkessel in eine schöne Kristallvase. Er gewann ihr Herz, legte behutsam seinen Henkel um ihren schlanken Hals und sie zogen los in die weite Welt. Doch bei jedem Schritt schwang der harte Kessel gegen die zarte Vase und nach kurzer Zeit zersprang sie in seiner Umarmung. Da stand der Kupferkessel und starrte weinend auf die Scherben.
Zwei alte Eichen am Wegesrand sprachen zu ihm: „Eure Liebe barst an eurer Verschiedenheit.
Suche eine dir Gleiche. Dein Herz erkennt sie sofort. Zögere nicht und spring mit ihr ins Glück!“'

'Traurig schön', seufzte Anna. Sie wendete sich lächelnd ab und griff nach ihrem Buch.
Ich spürte mein Magengeschwür wieder, winkte der Serviererin und bezahlte.
'Würden Sie mir einen Gefallen tun?', fragte Anna, ohne aufzuschauen.
'Natürlich, ich bin schon weg', sprang ich vom Stuhl hoch.
'Warten Sie!', rief Anna hastig. Suchend blätterte sie im Buch und fügte leise hinzu:
'Ich möchte gern wissen, wie es sich anfühlt, mit Ihnen zu tanzen.'
Sie sah zu mir auf, reichte mir ihr Lesezeichen, darauf stand:

"Café Lovely lädt zum Tanztee. Freitag ab 17 Uhr. Wir freuen uns auf Sie!"
Ein Schulbubenkichern kroch mir die Kehle hoch. Ich schluckte es geräuschvoll herunter, verbeugte mich vor Anna und gab ihr einen Handkuss.

Freitag sahen wir uns wieder und den Freitag danach. Es fühlte sich so gut an, dass wir uns bald täglich sahen. Anna behauptete, das läge einzig an meinen braunen Augen, die würden sie ganz verrückt machen. Nach drei Wochen zog Anna bei mir ein.

'Herbert, man weiß nie, wie's kommt', sprach sie, 'wir sind nicht mehr die Jüngsten.'

Niemals habe ich eine Frau so geliebt wie Anna. Sie ist für mich die Schönste der Welt. Ich mag alles an ihr, selbst ihren Ordnungsfimmel, ihre Rechthaberei und wie sie schimpfte, wenn es mal nicht nach ihrem Kopf ging. Ich mag ihre Verrücktheit, ihr Lachen und Weinen, ihr Hicksen bei jedem Glas Sekt und ihr Gickern, wenn ich sie im Nacken kitzelte und ...

Auch das mit dem Handy war ihre Idee: 'Herbert, Du brauchst ein Handy!' 'Warum? Ich hab Telefon.'
Darauf sie: 'Stell Dir vor, Du bist unterwegs und Dir passiert was.'
Und die Katze! 'Damit wir nicht so allein sind, wenn einer geht', sagte Anna.
Das sagte sie."

Meine Schuhe drücken. Langsam bücke ich mich, spüre jedes Lebensjahr in meinen Knochen, ergreife die graue Plastiktüte mit dem Aufdruck: "Café Lovely". Meine Kniegelenke krachen schmerzhaft beim Aufrichten. Ich schlurfe nach vorn, zu Anna. Behutsam fasse ich in die Tüte, hole eine Handvoll Kristallscherben hervor und streue sie über ihren Sarg aus Eichenholz.

Mai 2013

 
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